Kennst Du das Gefühl, wenn Du morgens aufwachst und sofort weißt, das wird Dein Tag? Heute war wieder so ein Tag. Um 7:40 Uhr schlage ich die Augen auf. Ich bin hell wach, die Sonne scheint durchs Fenster und ich weiß im selben Augenblick, das wird mein Tag. Nichts wird mich heute von meinem Plan abbringen können. Den letzten Tag meines 10-tätigen Trainingslagers will ich mit einer ganz speziellen Einheit krönen. Ein Marathon soll es sein. Ein Marathon im Schnee am Fuße des Riesengebirges. Sobald ich meine Langlaufskier unter die Füße spanne, durchläuft mich ein Kribbeln. Das Thermometer zeigt mir an, dass es -16 Grad sind. Alles andere hätte mich auch verwundert. Ich bin gut vorbereitet. 9 Tage habe ich auf dieses Finale hingearbeitet. Ich habe an meiner Technik des klassischen Stils gefeilt. Bergauf und bergab, Rechtskurven und Linkskurven, mit Doppelstockschub und mit diagonalen Stockeinsatz, schnell und auch locker. Ich brenne nun darauf, dass alles umzusetzen und mich ohne Handbremse richtig auszutoben.
Und dann geht es endlich los. Ich bin startklar und drücke auf meine Stoppuhr. Meine Skier gleiten auf der frisch gespurten Loipe dahin. So früh am Morgen bin ich einer der Ersten. Es dauert nicht lange, dann bin ich ganz in meinem Element. Ich erhöhe den Druck und nehme richtig Fahrt auf. Meine Atmung gibt den Rhythmus vor. Ich genieße die eisige, klare Gebirgsluft. Ich denke nicht an Gestern und nicht an Morgen. Für mich zählt nur der Augenblick, mit dem ich zu verschmelzen scheine. Ob ich mich in einem Zustand befinde, den man unter psychologischen Gesichtspunkten als „Flow-Zustand“ bezeichnet, wage ich selbst nicht zu beurteilen. Für mich ist es einfach mein persönlicher „Bubelicious-Mode“. Eine Ausprägung meines ILZ – dem idealen Leistungszustand.
Ich habe also den Rhythmus gefunden und scheine dahin zu schweben. Ich gehe völlig in der Bewegung auf. In diesem Moment entdecke ich wie vor mir im Schnee, ganz klar und deutlich, „Hey Bubel“ geschrieben steht. Gleichzeitig durchfährt mich ein gewaltiger Energieschub. Meine Muskulatur fühlt sich leicht, locker und frisch an. Ich überhole eine Gruppe von japsenden Herren im Skating-Schritt. Vor einer Woche hatten mich die selben Typen noch rechts liegen lassen. Mit 185 Herzschlägen in der Minute war bei mir Schluss gewesen. Mehr ging nicht rauszuholen. Aber heute…Ich schaue auf meine Uhr und wieder – ich kann es klar und deutlich entziffern – steht dort „Hey Bubel“. Ich kann es nicht fassen. Kann er wirklich hier sein? Hier im Riesengebirge?
Ich muss folgendes erwähnen, was ich im Januar bislang erlebt habe. Anfang des Monats war ich mit anderen Berlinern Nachwuchsläufern im Grunewald unterwegs, als uns bei unserem sonntäglichen Long-Run ein Unbekannter in unnachahmlicher Weise mit lockerem Schritt überholte und mir dabei zurief: „Hey Bubel“. Dieser mysteriöse Unbekannte kam mir sofort bekannt vor, aber niemand aus der Gruppe wollte mir glauben. Diese erste Begegnung hielt Maik Wollherr in seinem Läuferblog fest. Viele Tage vergingen und das Rätsel um den unbekannten Grüßenden sollte schon beinahe in Vergessenheit geraten. Ermüdendes Kopfzerbrechen, rege Diskussion mit Maik und Suchmeldungen nach Hinweisen in der ganzen Leichtathletik-Welt hatten keine Lösung gebracht. Doch dann erreichten uns, wie Maik zusammenfasste, “Morsezeichen aus Tübingen”. Die Runner’s World hatte auf ihrer Internetseite eine brisante Nachricht veröffentlicht. Der schnellste und erfolgreichste Deutsche Langstreckenläufer meldete sich in seiner Kolumne Baumanns Lauf der Woche zu Wort. Meine Vermutung wurde damit bestätigt. Ich hatte aber bei weitem unterschätzt, dass Baumann seine Geschwindigkeit all die Jahre konservieren und nach Belieben wieder auspacken konnte. Was für ein Pfundskerl! Ich bin bis heute noch von seinem geschmeidigen Laufstil geplättet. Er hat mich mit seiner Botschaft aber auch angestachelt. Ich bin zwar nicht dazu geboren, bei Olympischen Spielen die 5000 Meter mit einem höllischen Endspurt zu gewinnen. Ich habe mir eben das Ziel gesetzt, die Deutschen Meisterschaften im Marathon, über 50 und 100 Kilometer zu gewinnen. Warum soll das verrückt sein, wenn es meinen Vorlieben entspricht und ich die Chance habe, es mir mit konsequentem Training zu erarbeiten? Ich hatte mir vorgenommen, das mit ihm beim nächsten Aufeinandertreffen zu diskutieren. Außerdem wollte ich etwas dafür tun, nicht wieder so alt auszusehen. Da hilft mir der Knackarsch auch nicht weiter, wenn die Beine nicht schneller können. Nun aber wieder zurück zu meiner heutigen Ski-Tour in der tief verschneiten Winterlandschaft, die mein persönliches Finale des Trainingslagers und das Highlight zusammen mit meiner Mondschein-Expedition werden sollte.
Ist mir Dieter Baumann wirklich bis hierher in die einsamen Wälder des Riesengebirges gefolgt? Auf der nächsten Abfahrt hinter einer gefährlichen Haarnadelkurve folgte dann die Bestätigung. Ich höre wie mir jemand freundlich aber bestimmt zuruft: “Hey Bubel“. In voller Fahrt drehe ich meinen Kopf zur Seite. Und da sehe ich ihn. Die unverkennbare Pudelmütze hat er wie immer tief ins Gesicht gezogen. Mit einer wieselflinken Eleganz zieht Dieter Baumann an mir vorbei. Das ist meine Chance. Heute werde ich ihm Paroli bieten. Ich gehe aus der Spur und versuche mich in seinem Windschatten an ihn heranzusaugen. Ich komme zwar näher heran aber selbst auf seinen alten Brettern aus den 1980er Jahren ist er mir klar überlegen. Baumann ist in der Form seines Lebens. Von hinten rufe ich: „Hey Baumann! Dein Mythos beflügelt mich. Immer wenn Du in der Nähe bist, erfahre ich einen ungeheuerlichen Energieschub und meine Motivation ist unerschöpflich. Das ist unglaublich! Wie ist das möglich?“ Gekonnt durchfährt mein Vordermann die nächste Schikane. Ich drohe den Kontakt zu verlieren und rufe noch: “Wie wär’s, wenn wir mal zusammen einen Wettkampf laufen? Du weißt doch, mein Ziel ist Deutscher Meister über…“, doch da ist er ohne eine erkennbar Reaktion rechts zwischen den Tannen in den Wald verschwunden. Von weitem höre ich noch ein gedämpftes „Hey Bubel! Lass uns…“ den Rest verstehe ich nicht mehr, denn im selben Augenblick erwischt mich eine Schneelawine.
So setze ich meinen Weg fort. Um die 42,195 km zu vollenden, fehlen mir noch gute 8 Kilometer. Meine volle Konzentration gilt dem komplexen Bewegungsablauf, der bei lang andauernden Belastungen noch nicht hundertprozentig in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ganz beflügelt von der Baumann-Begegnung fällt es mir aber nicht schwer, weitere Kräfte für den letzten Anstieg zu mobilisieren. Ich denke: „Wenn das auch so gut bei meinem nächsten Marathon funktionieren könnte,…“, aber bis dahin muss ich noch viel Geduld bewahren. Heute kann ich aber einen weiteren Schritt auf den Weg bis dorthin machen. Das letzte Bergab-Stück wird noch einmal rasant. An Baumanns leichtfüßige Bewegungen denkend, probiere ich seine Technik nachzuahmen. Das gelingt mit diesmal noch nicht. Ich nehme mir vor, das bei meinem nächsten Aufenthalt in dieser Gegend emsig zu üben. Da fällt mir ein, dass ich Baumann noch Grüße von Freunden ausrichten sollte. Das werde ich auf jeden Fall bei der nächsten Begegnung nachholen.
Dann erreiche ich auch schon nach genau 3 Stunden 1 Minute und 30 Sekunden meinen Ausgangspunkt. Als ich kurz darauf vom Parkplatz rolle, verabschiede ich mich vom freundlichen Parkplatzwächter und biege auf die Straße ins Tal ein, wo in der Unterkunft schon das leckere Mittagessen auf mich wartet. Grinsend sage ich zu mir selbst: „Wow. Was für ein Trip. Das glaubt mir wirklich keiner.“